Kommentar: Das #Merkelphone ist eine Nebelkerze

Das Handy der Bundeskanzlerin wurde abgehört. Das ist ein Skandal, Frau Merkel empört sich öffentlich, internationale Medien und Politiker ebenfalls. Und doch passiert überhaupt nichts, man möchte abwarten und keinerlei Konsequenzen ziehen. Genau das sagte die angeblich mächtigste Frau Europas doch eigentlich nach dem Treffen mit Frankreichs Staatschef Hollande beim EU-Gipfel in Brüssel. Der eigentliche Aufreger ist das, was in den nächsten Tagen passieren wird, nämlich nichts. Das #Merkelphone als Nebelkerze. Ein Kommentar.

Nun mal ehrlich. Die Überwachung durch die NSA ist nicht erst seit gestern bekannt. Millionen deutscher Bundesbürger werden systematisch ausgehorcht, überwacht und beschattet. Milliarden Datensätze unschuldiger Menschen werden monatelang gespeichert, Kommunikationsdaten, Bewegungsprofile, Metadaten und natürlich auch Inhalte privater E-Mails und überhaupt alles, was seine Wege über das Internet geht. Edward Snowden hat alles öffentlich gemacht, aber nach ein wenig Aufregung seitens der Politik war alles schnell vergessen, Konsequenzen gab es nicht.

Und dann kam das #Merkelphone

Plötzlich ist die Aufregung wieder da: Das Handy der Kanzlerin ist wohl abgehört worden. Dass das Abhören eines Staatsoberhaupts einen Eingriff in die Souveränität eines jeden Staates darstellt, wird zunächst einmal komplett ignoriert. Das Schlimme ist doch, dass die Bundeskanzlerin plötzlich behandelt wird, als sei sie tatsächlich eine deutsche Bürgerin. Und noch schlimmer, dass sie sich letzten Endes auch genau wie eine verhält.

Es ist ihr doch schließlich vollkommen egal, dass das Volk überwacht wird. Das dient der Sicherheit. Aber plötzlich ist die Königin von Neuland persönlich betroffen. Plötzlich schafft sie es, den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika persönlich anzurufen und ihm die Meinung zu geigen. Ihn dürfte das nicht überrascht haben, er wusste sicherlich schon vorher, dass sie anruft.

Plötzlich wird auch gehandelt, unser DraußenAußenminister Westerwelle zitiert den amerikanischen Botschafter persönlich in sein Ministerium, um ihm mal so richtig einen… die Meinung zu sagen. Die internationale Presse wettert wieder gegen das Verhalten der amerikanischen Geheimdienste und das EU-Parlament denkt sehr laut über die Aussetzung des SWIFT- und TFTP-Abkommen nach. Auch die angedachte Datenschutzverordnung soll vorangetrieben werden, EU-Justizkommissarin Viviane Reding nennt diese selbst „Europas Unabhängigkeitserklärung“.

Das ist der Gipfel

Plötzlich ist es auch wieder relevant, dass sich die Menschen in Frankreich, auch Staatschef Hollande, darüber empört haben, als Anfang der Woche bekannt wurde, dass auch in ihrem Land gigantische Ausspähaktionen stattfanden. Umso besser, dass Hollande und Merkel sich sowieso gestern auf dem EU-Gipfel in Brüssel trafen.

Es wäre exakt der richtige Zeitpunkt, ein Zeichen zu setzen. Es wäre der Zeitpunkt, an dem die Politik ein wenig Wiedergutmachung nach dem Versagen in der NSA-Affäre hätte leisten können, als zunächst nur normale Terroristen Bürger belauscht wurden. Zumindest scheinbar in der Wahrnehmung der Kanzlerin. Doch wie empört ist die gute Frau? Um viertel nach eins in der Nacht trat sie am Ende des Gipfeltages vor die Presse. Gespräche mit Hollande und den anderen Regierungschefs haben stattgefunden, auch das #Merkelphone war ein Thema. Und jetzt wird es gut.

Mutti in Höchstform

Die Reaktion der Kanzlerin zeigt vor allem eines: Mutti ist für alle da. Aussagen wie die, dass die Mitgliedsstaaten der EU ihre „gemeinsame Sorge“ ausdrückten und das Vertrauen in die USA erschüttert sei, waren eigentlich ein guter Anfang. Sehr diplomatisch, aber immerhin kritisch. Allerdings müsse das Vertrauen zwischen den Partnern Europa und Amerika schnell wieder aufgebaut werden. Besonders schön war folgende Aussage der Kanzlerin: „Transatlantische Freundschaft ist keine Einbahnstraße, auch die Amerikaner brauchen Freunde“.

Mutti kümmert sich, auch die Amerikaner brauchen Freunde. Das erinnert mich an folgenden Witz: Zwei Sozialarbeiter gehen über die Straße und sehen einen Mann, der mit blutenden Wunden, frisch zusammengeschlagen, auf dem Boden liegt. Da sagt der Eine zum Anderen: „Du, dem, der das getan hat, dem müssen wir unbedingt helfen“.

Freundschaften müssen auch mal einen Streit verkraften können. Eine Eigenschaft von Freundschaft ist es, das die Freunde einander vertrauen und sich gegenseitig schätzen und helfen. Es ist kein Zeichen von Freundschaft, wenn die eine Seite die andere ständig hintergeht. Ein guter Freund macht das einfach nicht. Sicherlich kann so etwas mal passieren. Es ist auch richtig, wenn der Hintergangene in der Lage ist, Fehlverhalten zu verzeihen. Allgemein gilt dies als Zeichen von Stärke.

Merkels Einbahnstraßenfreundschaft

Diese Freundschaft ist jedoch schon lange eine Einbahnstraße. Sicher, wenn man sich daran zurückerinnert, was die USA für uns nach dem zweiten Weltkrieg getan haben, wird klar, dass wir Ihnen zu Dank verpflichtet sind und die USA unterstützen, wenn sie uns brauchen. Es hat sich im Laufe der Jahrzehnte eine enge Freundschaft entwickelt, beide Länder werden nicht müde, dies zu betonen. Man konnte mit der Freundschaft auch die militärische Unterstützung am Hindukusch rechtfertigen. In diesem sinnlosen Krieg sind auch deutsche Soldaten gestorben. Unter Freunden bringt man eben auch mal Opfer.

Doch was die USA hinter Muttis Rücken getan haben, geht auf keine Kuhhaut. Dass amerikanische Geheimdienste hierzulande aktiv sind, wundert sicherlich niemanden. Das Ausmaß der amerikanischen Internetüberwachung dagegen überraschte selbst die meisten Verschwörungstheoretiker. Merkel versuchte, den Skandal auszusitzen. Mit Erfolg. Immerhin beteuerte Amerika, keine flächendeckende Kommunikationsüberwachung durchzuführen. Das reichte, man glaubt den Freunden eben.

Dass aus Snowdens Dokumenten hervorging, dass Deutschland ein Überwachungsziel mit höchster Priorität und sogar als potenzielles Angriffsziel deklariert ist, ist auch unbedeutend. Das machen Freunde eben. Konsequenzen? Überhaupt keine. Nicht einmal eine kleine Reaktion. Und nun die Überwachung ihres eigenen Telefons du das vieler anderer Staatschefs und Spitzenpolitiker? Ein kleiner Aufreger, aber man verzeiht ja jetzt schon. Sieht so Freundschaft aus? Der eine hintergeht den anderen, markiert ihn als Ziel, belügt ihn absichtlich, spioniert ihn vollständig aus und kriegt dafür immer nur die Hand gereicht? Das ist keine Freundschaft. Das erinnert vielmehr an das Stockholm-Syndrom. Das ständige Verzeihen ist hier kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche.

Und nun passiert nichts mehr

Diese unilaterale Freundschaft wird auch diese Krise überstehen. Die gesamte NSA-Affäre hat in der Politik niemanden zum Umdenken gebracht. Sicher, man forderte Aufklärung, einen Untersuchungsausschuss gab es auch, Erkenntnisse und Konsequenzen dagegen nicht. Was gestern und heute geschehen ist, ist genau das gleiche im Schnelldurchlauf. Einen Tag Aufregung und am nächsten Tag ist wieder alles in Butter. Ja, es sollen Taten folgen. Tatsächlich will sie, gemeinsam mit Hollande, im Auftrag der 28 EU-Staaten in Gesprächen mit den USA bis Jahresende neue Regeln für die Geheimdienstarbeit aufstellen.

Wie das aussehen wird, ist doch bereits klar. Es wird darauf hinauslaufen, dass überhaupt nichts passiert. Politischer Wille ist nicht zu erkennen. Einzig das EU-Parlament geht auf die Barrikaden und fordert die Aussetzung des SWIFT- und die Aussetzung der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA. Das wären deutliche Zeichen. Auch die EU-Datenschutzverordnung könnte schnell in Kraft treten. Allerdings ist dies ohne Zustimmung der EU-Kommission und der EU-Staaten nicht möglich.

Angela Merkel hält die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen für wichtiger denn je. Sie klammert sich an Obama. Statt kalter Schulter gibt es eine Umarmung. Der Datenschutz? Nicht zu realisieren bis zur Wahl des neuen Europaparlaments 2014. Mit einem neuen Parlament und einer neuen Europäischen Kommission könnte man die Datenschutzrichtlinie eventuell 2015 einführen. Bis dahin ist die Affäre sowieso schon längst vergessen und die US-Internetfirmen dürfen weiter bei unseren Daten bedienen. Das SWIFT-Abkommen steht sowieso außer Frage.

Es sieht also so aus, als ob sich überhaupt nichts ändert. Mit uns kann man es ja machen. Wir werden vom deutschen Michel regiert. Mir persönlich fällt kein anderes Land ein, in dem die Menschen frei sind und sich wirklich alles gefallen lassen. Die Franzosen gehen auf die Straße, sobald ihnen irgendetwas nicht passt, sie zeigen es. Wir dagegen meckern in unserem Kämmerlein vor uns hin und sind dann wieder lieb Kind. Eventuell gibt es mal eine Demonstration. Nach Anmeldung. Vielleicht kommen auch ein paar hundert Leute, das war es dann aber auch.

Die Bundeskanzlerin verhält sich derzeit wie der Durchschnittsbürger. Sie hat sich aufgeregt und Konsequenzen gefordert. Exakt einen Tag später ist davon nichts mehr übrig. Man hat gemault, sich anschließend beraten und festgestellt, dass man sowieso nichts ändern kann. In diesem Sinne haben wir tatsächlich die perfekte Kanzlerin: Angela Merkel, Prototyp des deutschen Bürgers. Und die Aufregung darüber? Eine Nebelkerze.